Montag, 3. August 2015

Ich und Du und die kritische Methode





Martin Buber bezeichnet in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ zwei Grundworte, welche als Verhältnisse die zwiefältige Haltung des Menschen zur Welt begründen: Ich und Du sowie Ich und Es. Von diesen wird ausgegangen, wenn in diesem Text kurz erörtert wird, welche Wechselwirkung zwischen der Philosophie von Martin Buber und der kritischen Methode bestehen kann.


Nach Buber (1979) lässt sich das Grundwort Ich und Du nur mit dem ganzen Wesen des Menschen aussprechen. Das Grundwort Ich und Es hingegen kann nie mit dem ganzen Wesen ausgesprochen werden, weil das Ich und Du-Grundwort nicht darin vorkommt. Das Grundwort Ich und Es bildet die Welt der Erfahrung, es entsteht ein Etwas.


Von daher betrachtet sind Psychologie oder Pädagogik, welche die Lernenden gemäss einem Prinzip wie dem eigenständigen Lernen testen oder bloss in Erfahrungen des Grundwortes Ich und Es schicken, nie ganzheitliche Disziplinen. Der Lernende erfährt sich dabei als Teilwesen. Er ist nicht in seinem ganzen Wesen im Grundwort Ich und Du angesprochen. Der Lernende fühlt, dass er durch "Ich und Es - Programme" zu Lernstoff geschickt wird, er fühlt, wie er beziehungslos abgefragt und getestet wird, er nimmt wahr, dass man über seine Funktionen spricht und sein Wesen aussen vor lässt. Umgekehrt erfahren sich Eltern, Lehrende oder Psychologinnen bloss als zerstückelte Funktionäre der "Ich und Es - Welt". Das Ich der Lernenden und das Ich der pädagogisch Tätigen degenerieren fortlaufend im Versuch zu lernen. Das Lernen vermag das Wesen des Menschen nicht zu erreichen. Das Lernen bleibt ein Etwas.


Die kritische Methode entwickelt Beziehungen als Gegenseitigkeit. Der Psychologe oder die Pädagogin erfahren, was Buber (1979, S. 23) schrieb: „Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf.“ Beziehung, Gegenseitigkeit und Erfahrungen mit dem „Ich und Es“ der Welt der Sachen bilden im gegenseitigen Wirken ein Werk. Das bedeutet, dass jedes konkrete flexible Interview Baustein eines sozialen Werkes werden kann, weil das Grundwort „Ich und Du“ als Beziehung ausgesprochen wird. Jetzt entsteht wesentliche Bildung.


Die kritische Methode hilft erkennen, wie sich diese Verhältnisse konkret entwickeln. Ein Indikator des Werdens besteht darin, dass sich die Pädagogen von den Kindern erzogen fühlen. Das mag paradox klingen, doch die Lernenden sind in diesem Moment nicht mehr Objekte pädagogischer Programme, sondern Subjekte einer Gegenseitigkeit. Erziehende, Lehrende und Lernende haben das Grundwort „Ich und Du“ mit ihrem ganzen Wesen angesprochen und ausgesprochen.


Psychologen würden dann zum Beispiel entdecken, dass sie bei einem Kind nicht einfach den Stand der Intelligenz, die Einsicht in die Invarianz und die Klasseninklusion oder die sozialen Kognitionen testen, sondern dass sie selber durch das flexible Interview und die Auseinandersetzung mit der Invarianz, der Klasseninklusion oder der sozialen Kognitionen untersucht und erzogen worden sind.



Dieses Gefühl des Erzogen-Werdens verweist auf die frühe Kritik von Wygotski (1986) an einer genetischen Erkenntnistheorie, welche die Individuen mittels der Forschungsmethode auf sich selber zentrierte. Die Lehrende oder die forschende Person sind immer Teil des Lern- oder des Forschungsgegenstandes und nicht losgelöst von ihm. Diesen Aspekt entdeckte Piaget (1999), als er und seine Forscher feststellten, dass viele mündliche Antworten in den Anfängen der klinischen Interviews mittels der Suggestion durch die Forschenden zustande gekommen waren. Die Forschenden und die Pädagoginnen und Pädagogen sind keine neutralen Instanzen. Sie sind eingebunden in die Beziehung des Ich und des Du und sie sind eingebunden in einen Prozess der Ko-Konstruktion. Intelligenz ist nicht im Ich einer Person, sondern sie ist zwischen dem Ich und dem Du. Mathematik ist nicht im Ich einer Schülerin, sondern sie ist zwischen dem Ich und dem Du.


Ein weiterer Indikator besteht darin, dass die Zeit des Lernens wesentlicher gelebt wird. Es heisst oft, es wäre schon gut, mit der kritischen Methode zu arbeiten, aber man hätte in diesen Systemen keine Zeit dafür, deshalb wähle man halt bewährte Lernformen und Arbeitsblätter. - Die kritische Methode ermöglicht einen neuen Zeitbegriff. Die Zeit für ein flexibles Interview kommt in die Beziehung. Es gilt nicht mehr die Angst und die Sorge, dass für die Beziehung erst ein Zeitgefäss gefunden werden müsste. Die Zeit und mit ihr das Lernen stehen auf dem Fundament des Grundwortes Ich und Du.


Zuletzt sei die Erfahrung erörtert, dass die kritische Methode einen anderen pädagogischen Geist aufleben lässt. Oft teilen Pädagoginnen mit, dass sie Kindern oder Jugendlichen und Stoffen noch nie so beziehungs- und geistreich begegnet seien wie in den flexiblen Interviews.

Die folgende Textpassage von Martin Buber beleuchtet aus meiner Sicht das Verhältnis von Geist und Sprachen dynamisch und prägnant und sie kann die Dimensionen dieser Erfahrung erschliessen:



Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. Der Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer, Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem Geheimnis ansprechende Du. Geist ist Wort. Und wie die sprachliche Rede wohl erst im Gehirn des Menschen sich worten, dann in seiner Kehle sich lauten mag, beides aber sind nur Brechungen des wahren Vorgangs, in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr, - so alles Wort, so aller Geist. Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. (Buber 1979, S. 49).


Aus der Beziehung zwischen Bubers Philosophie und der kritischen Methode kann gefolgert werden, dass diese die Personen zu Äusserungen verschiedener „Zungen“ herausfordern, nämlich zum Sprechen und zum Handeln. Interessant ist, wie Buber festhält, dass der Mensch in der Sprache steht. Das würde bedeuten, dass die Lehrperson und die Lernenden in der Sprache eines Lerngegenstandes stehen, bevor sie sprechen und handeln. Dasselbe gälte für eine Psychologin und deren Probanden. Aussagen wie: „Das Kind beherrscht die Invarianz der Menge 5“, wären demzufolge beziehungslose Feststellungen. (Die Invarianz meint die Gewissheit, dass Verhältnisse zwischen Mengen oder Räumen gleich bleiben, unabhängig davon, wie sie dargestellt / ausgedrückt werden: Beispiele „IIIII“ ist gleichviel wie „I I I I I“, oder 1/2 = 5/10 usf.) Mit beziehungslosen Feststellungen wird nicht einsichtig gemacht, wie die Pädagogin oder die Psychologin in der Sprache, bzw. dem Geist der Invarianz und die Beziehung zum Ich und zum Du stehen. Und es wird nicht einsichtig gemacht, wie das Sprachspiel (siehe auch Wittgenstein) und die Handlungen vor sich gegangen sind. 

Die kritische Methode „spielt“ mit den Sprachen des Wortes und des Handelns, sie ist Beziehung zum Geist einer Sache (z.B. der Invarianz) und Beziehung zwischen Menschen.

Ich danke Gabriella Ruaro für den Austausch, der diesen Text entstehen liess. 


Literatur
Buber, M. (1979). Ich und Du (10. Aufl.). Heidelberg: Lambert Schneider. 
Piaget, J. (1999). Das Weltbild des Kindes (6. Auflage). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Wygotski, L. S. (1986). Denken und Sprechen. Frankfurt a.M.: Fischer.  
 

Dienstag, 23. September 2014

Gemalte Burg auf gemaltem Fels


Betrachtung über Aberglauben im mathematischen Bereich

Wittgenstein (2013b, VB 1929, S. 451) bemerkte: „In keiner religiösen Konfession ist soviel durch den Missbrauch metaphysischer Ausdrücke gesündigt worden wie in der Mathematik.“ Nach Vossenkuhl (2003) ist das keine generelle Zurückweisung der Mathematik, sondern es ist der Hinweis auf Irrwege, welche durch Grundlegungen geschaffen worden sind. Wittgenstein formulierte in den „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“:
16. Wozu braucht die Mathematik eine Grundlegung?! Sie braucht sie, glaube ich ebenso wenig, wie die Sätze, die von physikalischen Gegenständen – oder die, welche von Sinneseindrücken handeln, eine Analyse. Wohl aber bedürfen die mathematischen, sowie jene anderen Sätze, eine Klarlegung ihrer Grammatik.
Die mathematischen Probleme der sogenannten Grundlagen liegen für uns der Mathematik so wenig zu Grunde, wie der gemalte Fels die gemalte Burg trägt. (Wittgenstein, 2013a, §16, S.378)

Wie ist es mit den Grundlagen der Mathematik in der Psychologie und der Mathematikdidaktik? Nach Wittgenstein (2013a) und in Anlehnung an die Kritik an der Variablenpsychologie (Holzkamp, 1985) ergeben sich genug Anhaltspunkte, um auch in der Psychologie und der Mathematikdidaktik Metaphysisches und Konfessionelles zu entdecken. Da blinzeln Säuglinge, und es wird Mathematik gefunden (Wynn, 1997). Variablen werden zu einem Konstrukt addiert und als Vorläuferfertigkeiten abgeleitet (Krajewski, 2008), ungeachtet der grundlegenden messtheoretischen und erkenntnistheoretischen Standards (Gigerenzer, 1981). Das führt in Anlehnung an Wittgenstein (2013a) in ein falsches Sprachspiel, welches durch fragwürdige Produkte der Lehrmittelindustrie geradezu potenziert wird.


Wittgenstein’s (2013a, b) Hinweise auf das echte Sprachspiel verweisen auf die Klarlegung der Grammatik der mathematischen Sätze. Diese Klarlegung ist der Motor der mathematischen Bildung (Freudenthal, 1991). Dies begann bereits bei Platon im Menon-Dialog, in dem Sokrates die Meinungen des Sklaven über die Verdoppelung der Fläche eines Quadrates untersuchte. Sie zeichneten in den Sand und prüften die Grammatik der geometrischen Sätze. Das Sprechen, das Zeichnen und die Analyse bilden das echte Sprachspiel, welches den fachdidaktischen Aberglauben zu sprengen vermag. Lernende und Lehrende verankern sich im Wesen ihres eigenen und gemeinsamen Tuns und nicht bloss in einem Wissen, das zu befolgen wäre (Wittgenstein, 2013a, §4, S. 360f). Die Grundlagen dieses Wissens ironisiert Wittgenstein mit der Metapher der gemalten Burg, welche auf einem gemalten Felsen ruht (ebd., §16, S.378).

Die Sprachspiel-Metapher radikalisiert den erkenntnistheoretischen und den pragmatischen Verwendungszweck des flexiblen Interviews: wird es für variablenpsychologische Paradigmen eingesetzt oder als operatives Sprachspiel? - Als operatives Sprachspiel würde es mathematische Sätze von klein auf klarlegen helfen.



Literatur

Freudenthal, H. (1991). Revisiting Mathematics Education. China Lectures. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers.
Gigerenzer, G. (1981). Messung und Modellbildung in der Psychologie. München: Ernst Reinhardt.
Holzkamp, K. (1985). Grundlegung der Psychologie. Frankfurt: Campus Verlag.
Krajewski, K. (2008). Vorhersage von Rechenschwäche in der Grundschule (2., korr. Aufl.). Hamburg: Kovac.
Vossenkuhl, W. (2003). Ludwig Wittgenstein (2., durchges. Aufl.). München: C.H. Beck Verlag.
Wittgenstein, L. (2013a). Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (9. Auflage).Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Wittgenstein, L. (2013b). Über Gewissheit (13. Auflage). Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Wynn, K. (1997). Competence Models of Numerical Development. Cognitive Development, 12(3), 333-339.








Mittwoch, 25. Juni 2014

Epistemology in the school?



In the school metacognition is handled as thinking about learning and thinking, like an accessoire. Why not start with action-based epistemology? Epistemology as inquiry of knowledge and justified beliefs; developmental epistemology from the beginning rather than the moral and / or psychology of tasks. Epistemology as a data (experience) based trajectory growing like a rhizome.

See:

Allen, J. W. P., Bickhard, M.H. (2013). Stepping off the pendulum: Why only an action-based approach can transcend the nativist-empiristic debate. Cognitive Development, 28(2), 96-133.

Deleuze, G., Guattari, F. (1977). Rhizom. Berlin: Merve Verlag.

Müller, U., Carpendale, J.I.M., Smith, L. (Hrsg.). (2009). The Cambridge Companion to Piaget. Cambridge: Cambridge University Press.

Nietzsche, F. (1974). The Gay Science: With a Prelude in Rhymes and an Appendix of Songs. Vintage Books.

Samstag, 7. Juni 2014

Intelligenz

Die Methode ist Teil des Resultats. Intelligenz ist etwas Soziales. Das ist nicht zu verwechseln mit sozialer Intelligenz. Sokrates, Freud, Piaget et al. und Wygotski haben erste Beweise geführt.

Mittwoch, 21. Mai 2014

Unplugged mathematics

First-class-children invented arithmetic based on games (i.e. snakes and ladders). Kaija (name changed) wrote 1 + 6 – 7 + 8 – 9 + 10 – 11=__

The group around her began to calculate, some of them with fingers. Suddenly someone said: “does not go…” A crowd surrounded the task, many of them working with finger-counting.  Another girl said very convincingly: “8 – 9 doesn’t go, look, eight fingers minus 9 fingers.” Kaija changed a number in the chain.

This situation was a dense moment of curiosity, emergence and reflection (Allen & Bickhard, 2013). Freudenthal (1991) would say “realistic” mathematics. The teachers will work again with Kaija’s first task. The children learn to use commutative and associative laws, with addition and subtraction. They get over the actual borders of the natural numbers mathematically. They discover the integer numbers. – These kids are unplugged little mathematicians.

Kaija's  '1 + 6 – 7 + 8 – 9 + 10 – 11=__' is a stepping stone for mathematical inventions and for co-operation. Math-lessons would be realistic and poetic, if teachers and psychologists could imagine mathematic (listen John Lennon, read Kierkegaard).





Allen, J. W. P., Bickhard, M.H. (2013). Stepping off the pendulum: Why only an action-based approach can transcend the nativist-empiristic debate. Cognitive Development, 28(2), 96-133. 

Freudenthal, H. (1991). Revisiting Mathematics Education. China Lectures. Dordrecht: Kluwer Academic Publishers.

Kierkegaard, S. (2006). Fear and Trembling. Cambridge: Cambridge University Press.

Samstag, 3. Mai 2014

Einsicht lehrbar?

Eine Erweiterung in Anlehnung an Gruschka (2002, S. 139):

Dass auch Mathematik Einsicht ist, bedeutet noch nicht, dass Einsicht gelehrt werden kann. Sokrates bzw. Platon hat im Menon-Dialog bewiesen, dass Einsicht nicht gelehrt werden kann, dass sie anders zustande kommt.

Literatur
Gruschka, A. (2002). Didaktik. Elf Einsprüche gegen den didaktischen Betrieb. Wetzlar: Büchse der Pandora.