Betrachtung über Aberglauben im mathematischen Bereich
Wittgenstein (2013b, VB 1929, S. 451) bemerkte: „In keiner religiösen Konfession ist soviel durch den Missbrauch metaphysischer Ausdrücke gesündigt worden wie in der Mathematik.“ Nach Vossenkuhl (2003) ist das keine generelle Zurückweisung der Mathematik, sondern es ist der Hinweis auf Irrwege, welche durch Grundlegungen geschaffen worden sind. Wittgenstein formulierte in den „Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik“:
16. Wozu braucht die Mathematik eine
Grundlegung?! Sie braucht sie, glaube ich ebenso wenig, wie die Sätze, die von
physikalischen Gegenständen – oder die, welche von Sinneseindrücken handeln,
eine Analyse. Wohl aber bedürfen die
mathematischen, sowie jene anderen Sätze, eine Klarlegung ihrer Grammatik.
Die mathematischen Probleme der sogenannten Grundlagen liegen für uns
der Mathematik so wenig zu Grunde, wie der gemalte Fels die gemalte Burg trägt.
(Wittgenstein, 2013a, §16, S.378)
Wie ist es mit den Grundlagen der Mathematik in der Psychologie und der Mathematikdidaktik? Nach Wittgenstein (2013a) und in Anlehnung an die Kritik an der Variablenpsychologie (Holzkamp, 1985) ergeben sich genug Anhaltspunkte, um auch in der Psychologie und der Mathematikdidaktik Metaphysisches und Konfessionelles zu entdecken. Da blinzeln Säuglinge, und es wird Mathematik gefunden (Wynn, 1997). Variablen werden zu einem Konstrukt addiert und als Vorläuferfertigkeiten abgeleitet (Krajewski, 2008), ungeachtet der grundlegenden messtheoretischen und erkenntnistheoretischen Standards (Gigerenzer, 1981). Das führt in Anlehnung an Wittgenstein (2013a) in ein falsches Sprachspiel, welches durch fragwürdige Produkte der Lehrmittelindustrie geradezu potenziert wird.
Wittgenstein’s (2013a, b)
Hinweise auf das echte Sprachspiel verweisen auf die Klarlegung der Grammatik
der mathematischen Sätze. Diese Klarlegung ist der Motor der mathematischen
Bildung (Freudenthal, 1991). Dies begann bereits bei Platon im Menon-Dialog, in
dem Sokrates die Meinungen des Sklaven über die Verdoppelung der Fläche eines
Quadrates untersuchte. Sie zeichneten in den Sand und prüften die Grammatik
der geometrischen Sätze. Das Sprechen, das Zeichnen und die Analyse bilden das
echte Sprachspiel, welches den fachdidaktischen Aberglauben zu sprengen vermag.
Lernende und Lehrende verankern sich im Wesen ihres eigenen und gemeinsamen Tuns
und nicht bloss in einem Wissen, das zu befolgen wäre (Wittgenstein, 2013a, §4,
S. 360f). Die Grundlagen dieses Wissens ironisiert Wittgenstein mit der
Metapher der gemalten Burg, welche auf einem gemalten Felsen ruht (ebd., §16, S.378).
Die Sprachspiel-Metapher radikalisiert
den erkenntnistheoretischen und den pragmatischen Verwendungszweck des
flexiblen Interviews: wird es für variablenpsychologische Paradigmen
eingesetzt oder als operatives Sprachspiel? - Als operatives Sprachspiel würde
es mathematische Sätze von klein auf klarlegen helfen.
Literatur
Freudenthal, H. (1991). Revisiting
Mathematics Education. China Lectures. Dordrecht: Kluwer Academic
Publishers.
Gigerenzer, G. (1981). Messung und Modellbildung
in der Psychologie. München: Ernst Reinhardt.
Holzkamp, K. (1985). Grundlegung der Psychologie.
Frankfurt: Campus Verlag.
Krajewski, K. (2008). Vorhersage von
Rechenschwäche in der Grundschule (2., korr. Aufl.). Hamburg: Kovac.
Vossenkuhl, W. (2003). Ludwig Wittgenstein
(2., durchges. Aufl.). München: C.H. Beck Verlag.
Wittgenstein, L. (2013a). Bemerkungen über die
Grundlagen der Mathematik (9. Auflage).Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Wittgenstein, L. (2013b). Über Gewissheit
(13. Auflage). Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
Wynn,
K. (1997). Competence Models of Numerical Development. Cognitive Development, 12(3), 333-339.
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