Donnerstag, 15. November 2012

Gesprächstechnik und Dialog: eine Differenzierung

Donaldo Macedo (2010) macht auf der Grundlage der dialogischen Pädagogik von Paulo Freire eine bedeutsame Unterscheidung:
Das flexible und kritische Interview als Hilfsmittel der dialogischen Pädagogik... (Donaldo Macedo, 2010)

Samstag, 22. September 2012

Das flexible Interview macht den Beobachter, sein Gegenüber und die Sache sichtbar.

Michel Serres (1987) schreibt über die parasitäre Wissenschaft, dass sie sich unsichtbar macht, dass sie als Humanwissenschaft den Kontext ausschliesst und dass sie bloss nimmt und nicht gibt. Zitat:

"Der Beobachter ist das Nicht-Beobachtbare. Zumindest ist es nötig, dass er auf der Kette des Beobachtbaren der letzte sei. Wenn jemand an seine Stelle tritt, so wir er zum Beobachteten. Er ist also in der Position des Parasiten. Nicht allein, weil er die Beobachtung nimmt und nicht gibt, sondern auch, weil er die letzte Position in der Folge einnimmt. Im Spektrum des Sichtbaren, des Blickes und der Evidenz ist er entweder unsichtbar wie Gyges oder wie ein Subjekt unter lauter Objekten, oder er ist der am wenigsten Sichtbare von allen. Bleibe unbemerkt, und was das Geräuschspektrum angeht, halte dich unterm Wind" (ebd. S. 365).

Das flexible Interview beobachtet, befragt, experimentiert und testet den Beobachter, den Beobachteten und das, was sie tun. Die Rollen und die Handlungen bilden keine parasitäre Kette mehr, sondern sie treten im Verhältnis zur Aufgabe, nämlich etwas optimal zu bearbeiten, sowie erkenntlich und verständlich zu machen, in eine Art Symbiose über. Der Pädagoge oder die Pädagogin bzw. der Psychologe benutzen das flexible Interview nicht klinisch (parasitär), sondern sozial und kontextuell. Das ist m.E. die Herausforderung an die Pädagogik als Praxis und als Wissenschaft.


Ein hörenswerter Kurzvortrag:
Ein Denker im Dialog - Michel Serres (26 Min.)

Literatur
Serres, M. (1987). Der Parasit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Dienstag, 3. Juli 2012

Adorno: Denn Bildung ist eben das, ....


...wofür es keine richtigen Bräuche gibt; sie ist zu erwerben nur durch spontane Anstrengung und Interesse, nicht garantiert allein durch Kurse, und wären es auch solche vom Typus des Studium generale. Ja, in Wahrheit fällt sie nicht einmal Anstrengungen zu sondern der Aufgeschlossenheit, der Fähigkeit, überhaupt etwas Geistiges an sich herankommen zu lassen und es produktiv ins eigene Bewusstsein aufzunehmen, anstatt, wie ein unerträgliches Cliché lautet, damit, bloss lernend, sich auseinanderzusetzen. Fürchtete ich nicht das Missverständnis der Sentimentalität, so würde ich sagen, zur Bildung bedürfe es der Liebe; der Defekt ist wohl einer der Liebesfähigkeit. Anweisungen, wie das zu ändern sei, sind prekär; es wird darüber meist in einer frühen Phase der Kindheitsentwicklung entschieden. Aber wem es daran gebricht, der sollte kaum andere Menschen unterrichten. Er wird nicht nur jenes Leiden in der Schule perpetuieren, das die Dichter von sechzig Jahren anklagten, und das man wahrscheinlich zu Unrecht, für längst beseitigt hält, sondern der Defekt wird sich in den Schülern fortsetzen und ad infinitum jenen geistigen Zustand zeitigen, den ich nicht für unschuldige Naivetät halte, sondern der mitverantworltich war am Unheil des Nazionalsozialismus. (S. 485)

Aus:

Adorno, T. W. (2003). Philosophie und Lehrer. In T. W. Adorno (Hrsg.), Kulturkritik und Gesellschaft II (Bd. 10.2, S. 474-494). Frankfurt a.M.: suhrkamp taschenbuch.

Sonntag, 8. April 2012

Dialogisches Lernen: Lernen, wie es euch gefällt

Eine Lehrerin im Solothurnischen (Schweiz) erprobt mit Schulanfängern das «dialogische Lernen». Die Kinder bestimmen selbst, was sie lernen wollen. Ein Zukunftsmodell für die Volksschule?

Siehe 
http://www.beobachter.ch/arbeit-bildung/schule/artikel/dialogisches-lernen_lernen-wie-es-euch-gefaellt/

Hinweis (Stefan Meyer)
Das Beispiel zeigt eindrücklich, dass das dialogische Lernen mit Hilfe des flexiblen Interviews dynamisiert und gesichert werden kann.

Wozu Geometrie-Unterricht?

Hans Freudenthal


(...) Will man die Geometrie als logisches System dem Schüler auferlegen, so kann man sie in der Tat lieber abschaffen. Es gibt schlüssigere Systeme als welches System der Geometrie auch, das man sich ausdenken könnte. Geometrie-Unterricht kann nur sinnvoll sein, wenn man die Beziehung der Geometrie zum erlebten Raum ausnutzt. Unterlässt der Erzieher das, so lässt er sich unersetzliche Gelegenheiten entgehen. Geometrie ist eine der grossen Gelegenheiten, die Wirklichkeit mathematisieren zu lernen. Es ist eine Gelegenheit, Entdeckungen zu machen – wir werden es an Beispielen sehen. Gewiss, man kann auch das Zahlenreich erforschen, man kann rechnend denken lernen, aber Entdeckungen, die man mit den Augen und Händen macht, sind überzeugender und überraschender. Die Figuren im Raum sind, bis man sie entbehren kann, ein unersetzliches Hilfsmittel, die Forschung und Erfindung zu leiten. (S. 380)


Freudenthal, H. (1977). Mathematik als pädagogische Aufgabe (2., durchgesehene Auflage  Bd. 1 und 2). Stuttgart: Ernst Klett Verlag.

„Was ist die Essenz des mathematischen Denkens?“

Aus einem Interview mit Peter Lax von Peter Imhasly (2010)

Sie besteht darin, Ideen auf eine absolut logische Art miteinander zu verbinden – wobei die Logik nur ein Werkzeug ist. Die Substanz der Mathematik sind phantastische Phänomene. Strömungsphänomene wie im Eine-Million-Dollar-Problem der Navier-Stokes Gleichungen sind ungeheuer beeindruckend. Sie lassen sich täglich beobachten, ihr Verhalten erklären kann man bis heute nicht.


Pädagogisch-fachdidaktischer Kommentar (Stefan Meyer)

In diesem kurzen Interviewausschnitt stechen drei Begriffe hervor: das logische Verbinden von Ideen, Logik als Werkzeug und Phänomene als Substanz der Mathematik.

Bezogen auf die Grundausbildung in der Mathematik genügt es also, wenn man diese drei Begriffe bewusst vor Augen hält. Allerdings kommt ein psychologisch-pädagogisches Moment hinzu, welches Piaget und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgezeigt sowie Constance Kamii (2004) haben: die Entwicklung des Denkens, des Handelns, der Sozialisation und des Empfindens. Was bedeuten diese Begriffe in Anlehnung an Lax?

 Zum logischen Verbinden von Ideen
Logik ist ein Werkzeug. Der Gebrauch von Logik ist schon im nonverbalen Verhalten von kleinen Kindern sichtbar. Später werden Begriffe miteinander verknüpft, bzw. es wird Sprache mit Handeln und Handeln mit Sprache verknüpft (Inhelder, Piaget, 1977; Piaget, Inhelder, 1973; Kamii, 2004). Das Beispiel des Zählens, der Zahlbegriffe und der Umgang mit der arithmetischen Symbolsprache belegt eindrücklich, dass die Verknüpfungen einer Entwicklung unterstehen. Diese zu beobachten und in der Pädagogik nutzbar zu machen, ist eine Kunst.

Zur Logik als Werkzeug
Frege (2001) hatte versucht, die Mathematik aus der Logik heraus zu begründen. Dieser Versuch ist gescheitert. Der Versuch hat aber auf phantastische Weise gezeigt, was die Logik für ein wundervolles geistiges Werkzeug ist. Für die Pädagogik bedeutet dies, dass man nicht Logik um ihrer selbst willen übt, sondern dass der Gebrauch der Logik im Sprechen und Handeln beobachtet wird, und dass diese Beobachtungen in die mathematischen Erörterungen zurück fliessen können. Dies zu moderieren ist ebenfalls eine Kunst.

Zu den Phänomenen als Substanz der Mathematik
Nach Lax, wie auch bei Wagenschein (1999), sind hervorragende Phänomene dasjenige, woraus die Mathematik  besteht. Man könnte auch sagen, dass das Wesentliche der Mathematik darin besteht, Phänomene mit Hilfe der Logik, der Zahlen und der Operationen einsichtig zu machen.

Geschieht das im Kindergarten oder in der Schule? Wir wollen nicht so naiv sein, einen phantastischen Mathematikunterricht für alle Tage einfordern zu wollen. Wir sollten aber auch nicht so naiv sein, dass wir die die Substanz der Mathematik je erfahren, wenn Mathematik nur aus Arbeitsblättern, Abhandlungen der Lehrperson an der Wandtafel und herunter geladenen Wochenplänen besteht.

Fantastische Phänomene findet man dadurch heraus, dass man die Lebenswelt der Lernenden beobachtet und indem man mit den Lernenden spricht. Diese sind auch Katalysatoren für die Sozialisation. Paulo Freire nannte dies das generative Verfahren. Phantastische Phänomene werden in der Lebenswelt geteilt und erforscht, sie sind nicht Phantasieprodukte der Lehrenden. Dann hat man eher die Gewähr, dass substantielles Lernen entwickelt werden kann. Dann erscheinen auch die Lehrbücher und die Arbeitsblätter als Werkzeuge und nicht als die Substanz der Mathematik.

Literatur 
Frege, G. (2001). Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 
Imhasly, P. (2010, 24.10.2010). Ich denke ständig an Mathematik. Ein Gespräch über die Essenz des mathematischen Denkens mit Peter Lax. NZZ am Sonntag. 
Inhelder, B., Piaget, J. (1977). Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden. Olten: Walter-Verlag. 
Kamii, C. (2004). Young Children Continue To Reinvent Arithmetic. 2nd Grade (2nd ed). New York: Teachers College Press. 
Piaget, J., Inhelder, B. (1973). Die Entwicklung der elementaren logischen Strukturen, Teil 1. Düsseldorf:                Pädagogischer Verlag Schwann.: Pädagogischer Verlag Schwann. 
Piaget, J., Inhelder, B. (1973). Die Entwicklung der elementaren logischen Strukturen, Teil 2. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann.
Wagenschein, M. (1999). Verstehen lehren. Weinheim: Beltz Verlag.

246. Mathematik.

Wir wollen die Feinheit und die Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit dies nur irgend möglich ist, nicht im Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntnis. (175)

Nietzsche, F. (2006). Die fröhliche Wissenschaft. Stuttgart: Philipp Reclam jun.

Mathematik als Experiment des menschlichen Geistes

Ein Auszug aus der Einleitung:

Zugleich will diese Arbeit aber aufzeigen, dass uns in der Mathematik ein Experiment des menschlichen Geistes vorliegt, in welchem dieser seine eigenen gedanklichen Mittel bis an die Grenze ihrer Beanspruchbarkeit erprobt. In dieser Sicht betrachtet, erscheint die Problematik der Grundlagen der Mathematik als grundsätzliche Problematik des menschlichen Denkens schlechthin; die Reflexion über die Mathematik vermag uns über dieses wesentlichste Einsichten zu liefern. Wurde einmal die Physik von EINSTEIN ein „Abenteuer der Erkenntnis“ genannt, so kommt diese Bezeichnung in unvergleichlich höherem Masse der Mathematik zu, in der der Mensch seinen eigenen Erkenntnismittel in schwindelerregender Weise auf die Probe setzt. (Wittenberg, 1968, S. 20)

Quelle:
Wittenberg, A. I. (1968). Vom Denken in Begriffen. Mathematik als Experiment des reinen Denkens. Mit einem Geleitwort von Paul Bernays (2. Aufl.). Basel: Birkhäuser.