Donnerstag, 8. Oktober 2015

Vom Lärm zum Sinn der Sprachen und zu Erkenntnissen in der Pädagogik



Michel Serres (web-tech.fr)

« Keine Wissenschaft ohne vorgängige Musik. Die mathematischen Sprachen erklären die Welt; sie werden aus dieser Musik geboren; diese wiederum singt die Gesamtheit der Dinge. Sie wird aus ihren Geräuschen geboren und geht der grossen aleatorischen (Duden: auf Zufall beruhend, dem Zufall überlassen) Erzählung des Lebenden und des Universums voraus, die sich die Menschen erzählen. » (Serres, 2015, S. 35)

Es liegt am Wanderweg, den das neue Werk von Michel Serres zeichnet, dass wir auch die folgende Frage annehmen: Wenn keine Wissenschaft ohne vorgängige Musik existieren kann, wie ist es dann um die angewandte Pädagogik oder die Schulpsychologie bestimmt? Konkret:  

  • Welche Geräusche erklingen in den Klassenzimmern, Seminarräumen und Untersuchungszimmern? 
  • Mögen Sie diese Geräusche? 
  • Mögen die Kinder, die Jugendlichen und die Studierenden diese Geräusche? 
  • Freuen Sie sich gar auf diese Geräusche? 
  • Und freuen sich die Kinder, Jugendlichen und Studierenden auf diese Geräusche? 
  • Und welche mathematischen Fragen werden in diesen Geräuschen und deren Musik erzeugt? 
  • Mögen Sie diese Fragen? 
  • Freuen Sie sich gar auf diese Fragen? 
Ich kenne die Antworten auf diese Fragen erst wirklich, wenn ich sie in der Kooperation und dem Dialog mit den Lernenden gesucht habe. Dann erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass bedeutsames Unterrichten und Untersuchen erzeugt worden sind (Klafki, 1996).


Das gilt auch für das flexible Interview als Methode. Sie ist kein Automat für die Herstellung von besserem Wissen über die Einsichten in Mathematik oder in andere Forschungsgegenstände. Auch diese Methode lebt von der Aufmerksamkeit für die Geräusche und die Musik.
 


Literatur

Klafki, W. (1996). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemässe Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (5. Auflage). Basel: Beltz Verlag.

Serres, M. (2015). Musik. Berlin: Merve Verlag.

Montag, 3. August 2015

Ich und Du und die kritische Methode





Martin Buber bezeichnet in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ zwei Grundworte, welche als Verhältnisse die zwiefältige Haltung des Menschen zur Welt begründen: Ich und Du sowie Ich und Es. Von diesen wird ausgegangen, wenn in diesem Text kurz erörtert wird, welche Wechselwirkung zwischen der Philosophie von Martin Buber und der kritischen Methode bestehen kann.


Nach Buber (1979) lässt sich das Grundwort Ich und Du nur mit dem ganzen Wesen des Menschen aussprechen. Das Grundwort Ich und Es hingegen kann nie mit dem ganzen Wesen ausgesprochen werden, weil das Ich und Du-Grundwort nicht darin vorkommt. Das Grundwort Ich und Es bildet die Welt der Erfahrung, es entsteht ein Etwas.


Von daher betrachtet sind Psychologie oder Pädagogik, welche die Lernenden gemäss einem Prinzip wie dem eigenständigen Lernen testen oder bloss in Erfahrungen des Grundwortes Ich und Es schicken, nie ganzheitliche Disziplinen. Der Lernende erfährt sich dabei als Teilwesen. Er ist nicht in seinem ganzen Wesen im Grundwort Ich und Du angesprochen. Der Lernende fühlt, dass er durch "Ich und Es - Programme" zu Lernstoff geschickt wird, er fühlt, wie er beziehungslos abgefragt und getestet wird, er nimmt wahr, dass man über seine Funktionen spricht und sein Wesen aussen vor lässt. Umgekehrt erfahren sich Eltern, Lehrende oder Psychologinnen bloss als zerstückelte Funktionäre der "Ich und Es - Welt". Das Ich der Lernenden und das Ich der pädagogisch Tätigen degenerieren fortlaufend im Versuch zu lernen. Das Lernen vermag das Wesen des Menschen nicht zu erreichen. Das Lernen bleibt ein Etwas.


Die kritische Methode entwickelt Beziehungen als Gegenseitigkeit. Der Psychologe oder die Pädagogin erfahren, was Buber (1979, S. 23) schrieb: „Unsere Schüler bilden uns, unsere Werke bauen uns auf.“ Beziehung, Gegenseitigkeit und Erfahrungen mit dem „Ich und Es“ der Welt der Sachen bilden im gegenseitigen Wirken ein Werk. Das bedeutet, dass jedes konkrete flexible Interview Baustein eines sozialen Werkes werden kann, weil das Grundwort „Ich und Du“ als Beziehung ausgesprochen wird. Jetzt entsteht wesentliche Bildung.


Die kritische Methode hilft erkennen, wie sich diese Verhältnisse konkret entwickeln. Ein Indikator des Werdens besteht darin, dass sich die Pädagogen von den Kindern erzogen fühlen. Das mag paradox klingen, doch die Lernenden sind in diesem Moment nicht mehr Objekte pädagogischer Programme, sondern Subjekte einer Gegenseitigkeit. Erziehende, Lehrende und Lernende haben das Grundwort „Ich und Du“ mit ihrem ganzen Wesen angesprochen und ausgesprochen.


Psychologen würden dann zum Beispiel entdecken, dass sie bei einem Kind nicht einfach den Stand der Intelligenz, die Einsicht in die Invarianz und die Klasseninklusion oder die sozialen Kognitionen testen, sondern dass sie selber durch das flexible Interview und die Auseinandersetzung mit der Invarianz, der Klasseninklusion oder der sozialen Kognitionen untersucht und erzogen worden sind.



Dieses Gefühl des Erzogen-Werdens verweist auf die frühe Kritik von Wygotski (1986) an einer genetischen Erkenntnistheorie, welche die Individuen mittels der Forschungsmethode auf sich selber zentrierte. Die Lehrende oder die forschende Person sind immer Teil des Lern- oder des Forschungsgegenstandes und nicht losgelöst von ihm. Diesen Aspekt entdeckte Piaget (1999), als er und seine Forscher feststellten, dass viele mündliche Antworten in den Anfängen der klinischen Interviews mittels der Suggestion durch die Forschenden zustande gekommen waren. Die Forschenden und die Pädagoginnen und Pädagogen sind keine neutralen Instanzen. Sie sind eingebunden in die Beziehung des Ich und des Du und sie sind eingebunden in einen Prozess der Ko-Konstruktion. Intelligenz ist nicht im Ich einer Person, sondern sie ist zwischen dem Ich und dem Du. Mathematik ist nicht im Ich einer Schülerin, sondern sie ist zwischen dem Ich und dem Du.


Ein weiterer Indikator besteht darin, dass die Zeit des Lernens wesentlicher gelebt wird. Es heisst oft, es wäre schon gut, mit der kritischen Methode zu arbeiten, aber man hätte in diesen Systemen keine Zeit dafür, deshalb wähle man halt bewährte Lernformen und Arbeitsblätter. - Die kritische Methode ermöglicht einen neuen Zeitbegriff. Die Zeit für ein flexibles Interview kommt in die Beziehung. Es gilt nicht mehr die Angst und die Sorge, dass für die Beziehung erst ein Zeitgefäss gefunden werden müsste. Die Zeit und mit ihr das Lernen stehen auf dem Fundament des Grundwortes Ich und Du.


Zuletzt sei die Erfahrung erörtert, dass die kritische Methode einen anderen pädagogischen Geist aufleben lässt. Oft teilen Pädagoginnen mit, dass sie Kindern oder Jugendlichen und Stoffen noch nie so beziehungs- und geistreich begegnet seien wie in den flexiblen Interviews.

Die folgende Textpassage von Martin Buber beleuchtet aus meiner Sicht das Verhältnis von Geist und Sprachen dynamisch und prägnant und sie kann die Dimensionen dieser Erfahrung erschliessen:



Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. Der Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer, Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem Geheimnis ansprechende Du. Geist ist Wort. Und wie die sprachliche Rede wohl erst im Gehirn des Menschen sich worten, dann in seiner Kehle sich lauten mag, beides aber sind nur Brechungen des wahren Vorgangs, in Wahrheit nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der Sprache und redet aus ihr, - so alles Wort, so aller Geist. Geist ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. (Buber 1979, S. 49).


Aus der Beziehung zwischen Bubers Philosophie und der kritischen Methode kann gefolgert werden, dass diese die Personen zu Äusserungen verschiedener „Zungen“ herausfordern, nämlich zum Sprechen und zum Handeln. Interessant ist, wie Buber festhält, dass der Mensch in der Sprache steht. Das würde bedeuten, dass die Lehrperson und die Lernenden in der Sprache eines Lerngegenstandes stehen, bevor sie sprechen und handeln. Dasselbe gälte für eine Psychologin und deren Probanden. Aussagen wie: „Das Kind beherrscht die Invarianz der Menge 5“, wären demzufolge beziehungslose Feststellungen. (Die Invarianz meint die Gewissheit, dass Verhältnisse zwischen Mengen oder Räumen gleich bleiben, unabhängig davon, wie sie dargestellt / ausgedrückt werden: Beispiele „IIIII“ ist gleichviel wie „I I I I I“, oder 1/2 = 5/10 usf.) Mit beziehungslosen Feststellungen wird nicht einsichtig gemacht, wie die Pädagogin oder die Psychologin in der Sprache, bzw. dem Geist der Invarianz und die Beziehung zum Ich und zum Du stehen. Und es wird nicht einsichtig gemacht, wie das Sprachspiel (siehe auch Wittgenstein) und die Handlungen vor sich gegangen sind. 

Die kritische Methode „spielt“ mit den Sprachen des Wortes und des Handelns, sie ist Beziehung zum Geist einer Sache (z.B. der Invarianz) und Beziehung zwischen Menschen.

Ich danke Gabriella Ruaro für den Austausch, der diesen Text entstehen liess. 


Literatur
Buber, M. (1979). Ich und Du (10. Aufl.). Heidelberg: Lambert Schneider. 
Piaget, J. (1999). Das Weltbild des Kindes (6. Auflage). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Wygotski, L. S. (1986). Denken und Sprechen. Frankfurt a.M.: Fischer.