Martin
Buber bezeichnet in seinem Hauptwerk „Ich und Du“ zwei Grundworte, welche als Verhältnisse
die zwiefältige Haltung des Menschen zur Welt begründen: Ich und Du sowie Ich
und Es. Von diesen wird ausgegangen, wenn in diesem Text kurz erörtert
wird, welche Wechselwirkung zwischen der Philosophie von Martin Buber und der
kritischen Methode bestehen kann.
Nach
Buber (1979) lässt sich das Grundwort Ich und Du nur mit dem ganzen Wesen des
Menschen aussprechen. Das Grundwort Ich und Es hingegen kann nie mit dem ganzen
Wesen ausgesprochen werden, weil das Ich und Du-Grundwort nicht darin vorkommt. Das Grundwort Ich
und Es bildet die Welt der Erfahrung, es entsteht ein Etwas.
Von daher
betrachtet sind Psychologie oder Pädagogik, welche die Lernenden gemäss einem
Prinzip wie dem eigenständigen Lernen testen oder bloss in Erfahrungen des
Grundwortes Ich und Es schicken, nie ganzheitliche Disziplinen. Der Lernende
erfährt sich dabei als Teilwesen. Er ist nicht in seinem ganzen Wesen im
Grundwort Ich und Du angesprochen. Der Lernende fühlt, dass er durch "Ich
und Es - Programme" zu Lernstoff geschickt wird, er fühlt, wie er beziehungslos
abgefragt und getestet wird, er nimmt wahr, dass man über seine Funktionen
spricht und sein Wesen aussen vor lässt. Umgekehrt erfahren sich Eltern, Lehrende oder
Psychologinnen bloss als zerstückelte Funktionäre der "Ich und Es - Welt".
Das Ich der Lernenden und das Ich der pädagogisch Tätigen degenerieren fortlaufend im
Versuch zu lernen. Das Lernen vermag das Wesen des Menschen nicht zu erreichen.
Das Lernen bleibt ein Etwas.
Die
kritische Methode entwickelt Beziehungen als Gegenseitigkeit. Der Psychologe
oder die Pädagogin erfahren, was Buber (1979, S. 23) schrieb: „Unsere Schüler
bilden uns, unsere Werke bauen uns auf.“ Beziehung, Gegenseitigkeit und
Erfahrungen mit dem „Ich und Es“ der Welt der Sachen bilden im gegenseitigen
Wirken ein Werk. Das bedeutet, dass jedes konkrete flexible Interview Baustein
eines sozialen Werkes werden kann, weil das Grundwort „Ich und Du“ als
Beziehung ausgesprochen wird. Jetzt entsteht wesentliche Bildung.
Die
kritische Methode hilft erkennen, wie sich diese Verhältnisse konkret entwickeln.
Ein Indikator des Werdens besteht darin, dass sich die Pädagogen von den
Kindern erzogen fühlen. Das mag paradox klingen, doch die Lernenden sind in
diesem Moment nicht mehr Objekte pädagogischer Programme, sondern Subjekte
einer Gegenseitigkeit. Erziehende, Lehrende und Lernende haben das Grundwort „Ich und
Du“ mit ihrem ganzen Wesen angesprochen und ausgesprochen.
Psychologen
würden dann zum Beispiel entdecken, dass sie bei einem Kind nicht einfach den
Stand der Intelligenz, die Einsicht in die Invarianz und die Klasseninklusion oder die sozialen
Kognitionen testen, sondern dass sie selber durch das flexible Interview und
die Auseinandersetzung mit der Invarianz, der Klasseninklusion oder der
sozialen Kognitionen untersucht und erzogen worden sind.
Dieses
Gefühl des Erzogen-Werdens verweist auf die frühe Kritik von Wygotski (1986) an
einer genetischen Erkenntnistheorie, welche die Individuen mittels der
Forschungsmethode auf sich selber zentrierte. Die Lehrende oder die forschende
Person sind immer Teil des Lern- oder des Forschungsgegenstandes und nicht
losgelöst von ihm. Diesen Aspekt entdeckte Piaget (1999), als er und seine
Forscher feststellten, dass viele mündliche Antworten in den Anfängen der klinischen
Interviews mittels der Suggestion durch die Forschenden zustande gekommen
waren. Die Forschenden und die Pädagoginnen und Pädagogen sind keine neutralen
Instanzen. Sie sind eingebunden in die Beziehung des Ich und des Du und sie
sind eingebunden in einen Prozess der Ko-Konstruktion. Intelligenz ist nicht im
Ich einer Person, sondern sie ist zwischen dem Ich und dem Du. Mathematik ist
nicht im Ich einer Schülerin, sondern sie ist zwischen dem Ich und dem Du.
Ein
weiterer Indikator besteht darin, dass die Zeit des Lernens wesentlicher gelebt
wird. Es heisst oft, es wäre schon gut, mit der kritischen Methode zu arbeiten,
aber man hätte in diesen Systemen keine Zeit dafür, deshalb wähle man halt
bewährte Lernformen und Arbeitsblätter. - Die kritische Methode ermöglicht einen neuen
Zeitbegriff. Die Zeit für ein flexibles Interview kommt in die Beziehung.
Es gilt nicht mehr die Angst und die Sorge, dass für die Beziehung erst ein
Zeitgefäss gefunden werden müsste. Die Zeit und mit ihr das Lernen stehen auf
dem Fundament des Grundwortes Ich und Du.
Zuletzt sei die
Erfahrung erörtert, dass die kritische Methode einen anderen pädagogischen
Geist aufleben lässt. Oft teilen Pädagoginnen mit, dass sie Kindern oder
Jugendlichen und Stoffen noch nie so beziehungs- und geistreich begegnet seien
wie in den flexiblen Interviews.
Die folgende
Textpassage von Martin Buber beleuchtet aus meiner Sicht das Verhältnis von
Geist und Sprachen dynamisch und prägnant und sie kann die Dimensionen dieser
Erfahrung erschliessen:
Geist
in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein Du. Der
Mensch redet in vielen Zungen, Zungen der Sprache, der
Kunst, der Handlung, aber der Geist ist einer,
Antwort an das aus dem Geheimnis erscheinende, aus dem Geheimnis ansprechende
Du. Geist ist Wort. Und wie die sprachliche Rede wohl erst im Gehirn
des Menschen sich worten, dann in seiner Kehle
sich lauten mag, beides aber sind nur Brechungen des wahren Vorgangs, in Wahrheit
nämlich steckt die Sprache nicht im Menschen, sondern der Mensch steht in der
Sprache und redet aus ihr, - so alles Wort, so aller Geist. Geist ist
nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in
dir kreist, sondern wie die Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im
Geist, wenn er seinem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn
er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. (Buber 1979, S. 49).
Aus der
Beziehung zwischen Bubers Philosophie und der kritischen Methode kann gefolgert
werden, dass diese die Personen zu Äusserungen verschiedener „Zungen“
herausfordern, nämlich zum Sprechen und zum Handeln. Interessant ist,
wie Buber festhält, dass der Mensch in der Sprache steht. Das würde bedeuten,
dass die Lehrperson und die Lernenden in der Sprache eines Lerngegenstandes
stehen, bevor sie sprechen und handeln. Dasselbe gälte für eine Psychologin und
deren Probanden. Aussagen wie: „Das Kind beherrscht die Invarianz der Menge 5“,
wären demzufolge beziehungslose Feststellungen. (Die Invarianz meint die
Gewissheit, dass Verhältnisse zwischen Mengen oder Räumen gleich
bleiben, unabhängig davon, wie sie dargestellt / ausgedrückt werden: Beispiele „IIIII“
ist gleichviel wie „I I I I I“,
oder 1/2 = 5/10 usf.) Mit beziehungslosen
Feststellungen wird nicht einsichtig gemacht, wie die Pädagogin oder die
Psychologin in der Sprache, bzw. dem Geist der Invarianz und die Beziehung zum
Ich und zum Du stehen. Und es wird nicht einsichtig gemacht, wie das
Sprachspiel (siehe auch Wittgenstein) und die Handlungen vor sich gegangen
sind.
Die
kritische Methode „spielt“ mit den Sprachen des Wortes und des Handelns, sie
ist Beziehung zum Geist einer Sache (z.B. der Invarianz) und Beziehung zwischen
Menschen.
Ich danke
Gabriella Ruaro für den Austausch, der diesen Text entstehen liess.
Literatur
Buber, M. (1979). Ich und Du (10. Aufl.).
Heidelberg: Lambert Schneider.
Piaget, J. (1999). Das Weltbild des Kindes
(6. Auflage). München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Wygotski, L. S. (1986). Denken und Sprechen.
Frankfurt a.M.: Fischer.