Rousseau (1983):
Ich habe gesagt, daß die Geometrie die Fassungskraft der Kinder übersteigt. Aber das ist unsere Schuld. Wir bedenken nicht, daß ihre Methode nicht die unsre ist, und was für uns die Kunst des Denkens ist, für sie nur die Kunst des Sehens sein kann. Statt ihnen unsere Methode zu geben, täten wir besser, ihre anzunehmen. Denn unsere Art, Geometrie zu lehren, ist genauso eine Angelegenheit der Phantasie wie der Überlegung. Ist ein Satz gegeben, muß man den Beweis ersinnen, das heißt von welchen schon bewiesenen Sätzen dieser abhängt, und von allen Folgerungen, die man aus diesem Satz ableiten kann, die wählen, um die es sich handelt.
Bei dieser Art muß der schärfste Denker hinterherhinken, wenn ihm die Phantasie fehlt. Was folgt daraus? Statt uns die Beweise finden zu lassen, diktiert man sie uns. Statt uns logisch denken zu lehren, denkt der Lehrer für uns und übt nur unser Gedächtnis. (ebd., S. 134)
Kommentar:
Rousseaus Gedankengang umschreibt indirekt auch den Begriff der kritischen Methode. Er ist ein wesentliches Attribut des flexiblen Interviews, das selber eine permanente Methodenkritik darstellt.
Bei Rousseau betrifft es die Lehre, d.h. die kritische Auseinandersetzung mit den Zielen und mit den Lehrmethoden am Beispiel der Geometrie.
Bei Piaget betrifft es die Forschung, d.h. die kritische Auseinandersetzung mit den Fragestellungen, mit den Forschungsgegenständen und mit den Forschungsmethoden (Bringuier, 2004).
Beide streben andere Entwicklungen an. Das bedingt, dass man nicht nur auf die Forschungsgegenstände und die untersuchten Personen schaut, sondern gleichzeitig auf die Forschenden selber. Die Methode der Kinder kann erst angenommen werden, wenn man selber kreativere Fragen an die Lehre und die Forschung stellt.
Literatur:
Bringuier, J. C. (2004). Jean Piaget - Ein Selbstportrait in Gesprächen. Weinheim: Beltz.